Treue, Leid und Trauer


Man lernt nie aus. Vor ein paar Wochen erst habe ich erfahren, wie die erste Strophe von Jetzt fahr‘n wir über‘n See wirklich geht; nämlich so:

Jetzt fahr‘n wir über‘n See, über‘n See
Jetzt fahr‘n wir über‘n See.

Soweit, so gut. Bis hierher ist noch alles klar, es gibt keine Überraschungen. So kennen und lieben wir das Lied.
Mit einer hölzern Wurzel. Wurzel, Wurzel, Wurzel.
Mit einer hölzern Wurzel -
Hier müssen wir noch mal kurz innehalten. Man findet schon in diesem alten Lied Muster, die auch noch in modernen Popsongs erfolgreich sind: die dreimalige Wiederholung des Wortes, mit dem die vorangegangene Zeile endet. Vergleiche: Hölle, Hölle, Hölle. Zurecht erwartet man danach irgendeine Offenbarung. Und jetzt kommt sie:
Ein Ruder war nicht dran.
Was soll das denn? Was für ein Ruder überhaupt? Ist das Steuerruder gemeint oder die Riemen eines Ruderbootes? Ist denn ein Segel dran? Ganz offensichtlich handelt es sich bei dieser vollkommen unverständlichen Textzeile um einen klassischen Verhörer. Kurzerhand wird das Verhörte richtig gestellt:
Ein Bruder war nicht treu.
Da haben wir’s. Ein Bruder, das muss man wissen, war bis weit über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinaus jeder Mitarbeiter in der männlichen Diakonie, so wie eine Schwester eine Mitarbeiterin im Krankenhaus war, unbeschadet ihrer tatsächlichen Qualifikationen. Mit diesem Bruder befasste sich offenbar der Schluss der ersten Strophe des Liedes. Dass er nicht „nicht dran“ war, wie ich erst zu hören glaubte, liegt eigentlich auf der Hand. Wo sollte er denn „dran“ gewesen sein. Nein. Er war nicht treu. Diese Aussage ist für alle wieder völlig verständlich und geradezu logisch. Warum, weiß ich nicht. 
Wem hätte denn ein Bruder treu sein müssen? Seinen Brüdern vielleicht und natürlich auch seinen Schwestern. Seinen Eltern allemal. Aber was haben die nun mit der Fahrt über den See zu tun? Sie fliehen. Sie sind auf der Flucht vor dem untreuen Bruder. Der bleibt auf der anderen Seite, dort wo es Nacht ist, die die Fliehenden hinter sich lassen. Als sie drüber war‘n, brach der helle Tag an, und alle Vöglein sangen. Der untreue Bruder bleibt allein im Dunkeln, wo höchstens Frösche quaken. Das geschieht ihm ganz recht. Denn treu hätte er im Mindesten sein müssen, wenn er schon nichts anderes war. Ein anderes Lied über die Treue ist das Lied vom treuen Husar, der sein Mädchen ein ganzes Jahr liebte. Dann starb sie und das war für ihn ein großes Leid. 
Ein großes Leid und noch viel mehr.
Die Trauer nimmt kein Ende mehr. 

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