Singen kann jeder

Die natürliche Körperform des Mannes gleicht eher einem b. Die gesellschaftliche Idealisierung will uns stattdessen ein i vormachen. Ich erkenne den Fehler, wenn ich an einem Spiegel vorbeigehe und mein Profil aus den Augenwinkel wahrnehme. Es ist ein b. Man erkennt es auch, wenn man sich Darstellungen von Australopithecinen anschaut. Ich kann mir gar nicht erklären, wie es zum i gekommen ist. Vielleicht von „idealisieren" . Nun zeichnen sich Idealisierungen vor allem dadurch aus, dass es sie gar nicht gibt. Im Grunde genommen sind es Vereinfachungen, Weglassungen. Leider wird bei Idealisierung oft auch Wesentliches weggelassen. Es ist ein dummer Reflex, einem Ideal entsprechen zu wollen, denn es ist nicht möglich und es verursacht Kosten. Im konkreten Fall kostet es Energie, die kleidsame Ausstülpung am unteren Körperende nach innen zu ziehen und dann so zu verharren. Eine schier übermenschliche Anstrengung, die auch nicht gesundheitsfördernd sein kann. 
Darüber hinaus ist es auch völlig unnötig, die eigene Erscheinung im Profil wahrzunehmen. Ich interessiere mich ja auch nicht dafür, wie ich von hinten aussehe. Man hat mir vor kurzem gesagt, dass mein Hinterkopf einen ähnlich individuellen Anblick böte wie ein Gesicht. Ich habe es mir mal angesehen und es stimmt. (Ich dachte immer, ich könnte es gar nicht, weil ich dazu zwei Spiegel brauchte. Dann habe ich aber mal im Bus gesehen, dass ein Telefon auch ein prima Spiegel sein kann!) Ich bin von hinten sogar noch besser zu erkennen, als von vorn! Von vorn werde ich manchmal mit Russel Crowe verwechselt, wohingegen niemand, den ich kenne so aussieht, wie ich von hinten. Vielleicht mit Ausnahme der Mönche in „Der Name der Rose“. 
Aber zurück zur Ausstülpung. Sie hat sich in langen evolutionären Zeiträumen entwickelt und hat natürlich ihren Sinn. In dem Film „Schtonk" habe zum ersten Mal gesehen, wie sich Götz George in ein Korsett zwängt, um sie zu kaschieren. Das ist natürlich grundverkehrt. Die b-Form dient der verbesserten Bauchatmung, die für die Kommunikation durch Singen unerlässlich ist. Im Gegensatz zum brustatmenden Rivalen kann der Bauchatmer längere und präzisere Tonfolgen zur Kontaktaufnahme mit einem oder mehreren Weibchen erzeugen und den Kontakt auch viel länger aufrecht erhalten. Leider ist das Singen im Verlauf der kulturellen Entwicklung einer ähnlichen Idealisierung ausgesetzt worden, wie die Körperform. Darum trauen sich heute nur noch Wenige, in der Öffentlichkeit zu singen, weil ihnen gesagt wurde, dass sie es nicht können. Das kann man kaum noch reparieren. Ich schlage vor, den heutigen Kindern zu vermitteln, dass das Sprechen eine Kunst ist. Singen, so soll man es ihnen vorsingen, singen kann jeder.

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