Allein in Gößnitz

Ich fahre zur Zeit sehr oft mit der Bahn. Zuerst muss ich nach Berlin, dann weiter nach Leipzig, von dort nach Zwickau und dann ins Erzgebirge Richtung Johanngeorgenstadt. Das ist jedesmal eine schöne Reise. Wenn alles klappt. Meistens ist das so. Einmal fuhr die Erzgebirgsbahn nicht wegen Eis und Schnee. Die Frau, die ich liebe und um derentwillen ich diese Reisen unternehme, musste mich aus Zwickau abholen. Ein anderes Mal war es schlimmer. Die S-Bahn Mitteldeutschland, die von Leipzig nach Zwickau fährt, fuhr von Gößnitz aus einfach nicht weiter. Etwas Schlimmes sei auf der Strecke geschehen, man könne die Fahrt nicht fortsetzen. Ein Ersatzverkehr werde eingerichtet. Wir sollten aussteigen. 

Durch einen langen Tunnel gelangten wir wieder ins Freie. Es war bitterkalt. Ich konnte nicht lachen. Alle anderen telefonierten. Auch das konnte ich nicht. Ich wäre in Tränen ausgebrochen. Stattdessen schrieb ich mit frostklammen Fingern eine Nachricht an die Frau, die ich liebe und die mich erwartete. Sie sprang sofort in ihr kleines Auto und fuhr los. Wir würden uns in Zwickau treffen. Dorthin käme ich mit dem Ersatzverkehr. Woher aber, so fragte ich mich, woher sollte jetzt ein Ersatzverkehr kommen? Stehen in Gößnitz für den Ernstfall Busse mit laufendem Motor bereit, die nur noch losfahren müssten, wenn sie angefordert werden? Der Gößnitzer Bahnsteig prahlt ja damit, der längste Bahnsteig Deutschlands zu sein. Das ist er aber nicht. Er ist gerade mal der längste Bahnsteig von Gößnitz. Sie hatten dort auch mal ein schönes Bahnhofsgebäude. Da hätte man vielleicht ganz bequem warten können. Das wurde aber abgerissen und jetzt haben sie nur noch einen sehr schlimmen, langen Tunnel. Es fuhr natürlich auch kein Ersatzverkehr. Alle anderen, die telefoniert hatten, waren inzwischen abgeholt worden und ich stand allein in Gößnitz. Die Frau, die mich liebt war jetzt in Zwickau. Wir telefonierten. Ich schoß eine rote Leuchtkugel ab. Sie würde mich holen. 

Am nächsten Tag wollte ich von der Bahn eine Entschädigung haben. In der Smartphone-App, die ich zur Reisebuchung benutze, kann man Buchungen stornieren. Erstattungsanträge müsse man über die Website der Bahn stellen. Ich füllte dort sehr lange ein Formular aus. Dann forderte mich die Seite auf, das Formular zu drucken und zusammen mit der Fahrkarte per Post an die aufgedruckte Adresse zu schicken. Post und Bahn hängen offenbar noch irgendwie zusammen. Inzwischen kam ein digital gedruckter Brief mit der Post zurück, ich sollte noch angeben, wann ich denn am Zielort angekommen sei und diese Information wieder per Post zurücksenden. Ich verlor ein bisschen meinen Gleichmut. Schließlich bin ich mit der Bahn gar nicht angekommen! Sie fuhr einfach nicht mehr. Wieso stellen sie sich jetzt so, als wüssten sie das nicht? 

Ich vermerkte diese Angaben handschriftlich auf dem digitalen Brief und fragte noch an, ob ich nicht vielleicht lieber nach Frankfurt kommen sollte, um die Angelegenheit im persönlichen Gespräch aus der Welt zu schaffen. Dann kaufte ich eine Internetmarke, die ich drucken, ausschneiden und mit Prittstift aufkleben musste. Bei meiner nächsten Fahrt zwinkerten mir die Zugschaffner beim Ticket-Scannen verschwörerisch zu. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. 

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