Vor vielen, vielen Jahren, damals, als ich meine berufliche Laufbahn begann - da gab es noch die Deutsche Reichsbahn. Ich bekam irgendwie keinen anderen Ausbildungsplatz und begann meine Lehre bei diesem großen, traditionsreichen Transportunternehmen, dessen Generaldirektor niemand anderes war, als der Verkehrsminister der Deutschen Demokratischen Republik höchstselbst. Wie er während meiner Lehrzeit Anfang der Achtziger Jahre hieß, will mir gerade nicht einfallen. Meine berufspraktische Ausbildung erhielt ich unter anderem bei einem einarmigen Fahrdienstleiter, dessen Devise im Bezug auf Pünktlichkeit von Reisezügen lautete: Wer reist, hat Zeit. Da war was dran. Inzwischen weiß ich, dass diese Devise keineswegs eine persönliche Sichtweise des betreffenden Kollegen war. Diese Devise ist tief in der Seele eines Eisenbahners verwurzelt, egal, unter welchem Logo seine Eisenbahn gerade firmiert oder wie sein Chef heißt, oder was der vielleicht noch über diese Devise denkt.
Neuerdings fallen mir jetzt immer die ICE-Züge aus. Gründe dafür werden erst gar nicht mehr mitgeteilt. Beim letzten Mal habe ich meine Weiterreise noch in Eigeninitative bewerkstelligt, wobei ich aber kein gutes Gefühl hatte. Man bot mir Gutscheine und andere Vergünstigungen an, wenn ich meinen Eigensinn nur aufgeben würde. Diesmal dachte ich, ich mache es gleich richtig, was natürlich erst recht verkehrt ist. Im Zwickauer Hauptbahnhof gibt es einen Servicepoint der Deutschen Bahn, wo ich meinen Fall schilderte: Mein ICE ab Leipzig 15:16 soll ausfallen, wie komme ich jetzt nach Hause? Ich bekam eine Verbindung eine Stunde später ausgedruckt. „Sie haben ja ein Flex-Ticket. Das heißt flexibel reisen.“ Ich fragte, was mit meiner Reservierung wäre? Ich sollte versuchen, sie im Kundenzentrum umbuchen zu lassen. Das war nicht möglich, weil ich kein gedrucktes Ticket hatte. Ich solle es in Leipzig versuchen. „Ach, die können das????“ „Ja, das ist ja die Deutsche Bahn. Wir sind die Mitteldeutsche Regionalbahn.“
Inzwischen war die Kollegin vom Servicepoint wieder bei mir, um meine Fortschritte zu überprüfen. Sie guckte traurig, als ich erfolglos blieb. Ich sagte „Na, dann fahre ich jetzt eben erst mal nach Leipzig.“ Und jetzt sagte mein Rotkäppchen einen Satz, der unschlagbar beweist, wie gründlich die Devise „Wer reist, hat Zeit“ in einer Eisenbahnerseele verwurzelt ist. Der aktuelle Stand war ja, dass ich eine Stunde verlieren würde. Mein Rotkäppchen lächelte mich jovial an und sagte nicht ohne Stolz: „Nu, schließlich haben Sie ja jetzt Zeit gebunkert!“
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