Wer schreibt den Roman meines Lebens? Ich selbst? Einiges spräche dafür. Zum Beispiel, dass bestimmte Ereignisse erst spät eintreten. Das könnte daran liegen, dass ich erst spät mit dem Schreiben begonnen habe. Diese Schlussfolgerung wiederum ist ein schönes Beispiel für die Verwechslung von Ursache und Wirkung. Genau genommen ist der späte Beginn des Schreibens eine Konkretion der allgemein formulierten spät eintretenden Ereignisse. Die Ursache von beidem ist die Tatsache, dass ich ein Spätentwickler bin. Der Kindheitszug hatte in meiner Ontogenese so viel Verspätung, dass alle nachfolgenden Züge gehörig aus dem Takt gerieten. Als die statistisch normal Entwickelten meines Jahrgangs heirateten, kaufte ich mein erstes mehrbändiges Lexikon. Es muss kein Nachteil sein, wenn man Verspätung hat. Die Flüchtlinge, die im Januar 1945 die Wilhelm Gustloff nicht mehr erreicht haben, wussten das. Seit ich regelmäßig Bahn fahre, weiß ich es auch. Wenn es anders kommt, als man sich das vorgestellt hat, beginnt das Leben.
Der Grund für meine eigene Existenz ist eine doppelte Verspätung. Ein junger Mann fuhr irgendwann gegen Ende der 1950er Jahre von Ludwigsfelde nach Neuruppin. Die Reise führte ihn über Hennigsdorf. Im Zug nach Neuruppin traf er eine junge Frau und beide kamen ins Gespräch und fanden sich sympathisch. Der Mann wollte bei Neuruppin seine Mutter besuchen, die Frau wollte dort ein Paddelboot verkaufen. Sie verabredeten sich für den Nachmittag zur gemeinsamen Rückfahrt. Der Mann hatte bei seiner Mutter viel zu erledigen und schaffte den verabredeten Zug nicht. Hier hätte die Geschichte enden können. Aber die Frau schaffte den Zug auch nicht und so trafen sich die beiden dann doch am nächsten Zug. Der Mann brachte die Frau noch in Hennigsdorf nach Hause. Ein paar Jahre später heirateten die beiden und wieder ein paar Jahre später wurden die zwei meine Eltern und meine eigene Geschichte begann. Hätte ich in meiner Geschichte keine Verspätung gehabt, könnte die Geschichte wiederum hier enden. Manchmal ist es aber auch gut, wenn nur einer von beiden Verspätung hat. Hin und wieder komme ich auf meinen Bahnreisen pünktlich nach Leipzig und erreiche dann einen Zug früher nach Berlin, weil der Verspätung hat. Zwanzig Minuten wären optimal. Dann kann ich es schaffen, eine Stunde früher anzukommen. Weil der Zug Verspätung hatte. Verrückt, was?
In einer Gruppe erwähnte ich kürzlich, dass ich heiraten würde. „Wann denn??“ Ich nannte das Datum. „Ja, aber wann denn???“ „Um 11:30“. Ein Teilnehmer entgegnete, das sei aber ganz schön spät. Er hatte recht. Aber wie gesagt, es muss kein Nachteil sein.
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