Ohne Berge

Ich brauchte eine neue Laufstrecke. Ich hatte mir viel Zeit damit gelassen, aber jetzt musste etwas geschehen. Das Problem besteht in meiner derzeitigen Wohngegend darin, dass es so gut wie keine ebenen Streckenabschnitte gibt. Entweder man läuft bergauf oder bergab. Da, wo ich früher gewohnt habe, gab es so etwas nicht. Wenn man nicht gerade in der Stadt oder im Wald war, konnte man sehr weit gucken, bevor der Blick auf ein Hindernis prallte. Hier wirft sich der Erdboden fortwährend in einer Vielzahl von Ausstülpungen auf, die man entweder umgehen oder eben überqueren muss. Da die Umgehungen für die Automobile reserviert sind, muss man fußläufig die Überquerung wählen, wenn man nicht lebensmüde ist und auf der Straße laufen will. Warum ich überhaupt laufen muss, weiss ich selbst nicht. Die Begehung eines Geländes genügt mir einfach nicht. Um einen Landstrich in Besitz zu nehmen, muss ich ihn im Laufschritt durchmessen können. Es scheint eine Art Kampf zu sein, den ich gewinnen muss, wenn ich irgendwo zu Hause sein will. Wie gesagt, in meiner alten Wohngegend war das nicht gerade schwer. Es war dort eher die Weitläufigkeit der Landschaft, die mir Probleme bereitete. Wäre ich so weit gelaufen, wie es zu meinen besten Zeiten dort möglich gewesen wäre, hätte ich mich nicht mehr ausgekannt und wäre eben doch nicht zu Hause gewesen. Hier werde ich noch eine ganze Weile damit zu tun haben, die unmittelbare Umgebung unseres Hauses zu erlaufen.

Immerhin hatte ich mich jetzt für eine Strecke entschieden. Sie beginnt, nach kürzestem Aufstieg, mit einer sanften Bergabstrecke zwischen Waldrand und Kleingärten, bis man an der vierhundertjährigen Buche auf eine Asphaltstraße trifft, die weiter sanft bergab führt. Dann erreichen wir besiedeltes Gebiet. Ab jetzt wird es schwieriger. Die Straße steigt leicht an und auf Balkonen und in Hauseingängen lungern Schaulustige jeglichen Alters herum, die nur darauf zu warten scheinen, dass man hier schon zusammenbricht. Dieser Gedanke lag freilich nahe, denn schon nach diesen wenigen Metern begann mein Körper auch für Außenstehende signifikant zu rebellieren: Der Schritt wurde schwer, der schwer keuchende Atem rasselte und mein Dauerlächeln entgleiste zu einer schmerzverzerrten Fratze. Mir fiel wieder ein, wie mir mitten im Darßwald der Fahrradreifen luftleer fiel und ich meiner damaligen Verlobten weismachen wollte, ich könnte ohne Weiteres die dreißig Kilometer bis zur Ferienwohnung im Dauerlauf zurücklegen.

Nachdem mein Weg aus der Siedlung abbog und schließlich am Rand einer Viehweide weiter bergan führte, musste ich anhalten. Ich keuchte, fluchte und machte im Schritt weiter. Am Ende war ich froh, zwar erschöpft aber wohlbehalten zu Hause angekommen zu sein. Hier hatte ich aber nicht bedacht, dass sich unsere Wohnung im Dachgeschoss befindet. Ich hätte erst Kraft schöpfen sollen, mich ausruhen und es langsam angehen lassen. So stolperte ich schweißtriefend, röchelnd und mit dreistelligem Puls die Bodentreppe hinauf und zur Türe herein. Meine arme Frau meinte nicht anderes, als dass ich von einer Wildsau angegriffen und bis hierher verfolgt worden sei. Ich lasse sie vorerst in diesem Glauben, obwohl sie ja noch weiß, wie mein Dauerlauf im Darßwald nach fünf Minuten zu Ende war. Ohne Wildsau. Und ohne Berge.

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