Was keiner sagt

Angeblich darf man in diesem Lande ja nicht mehr sagen, was man denkt. Alles, was auch in diesem Zusammenhang über das Denken zu sagen wäre, habe ich bereits in einer vorangegangenen Denkschrift dargelegt. Daraus ergäbe sich dann einwandfrei, dass das Denken hierzulande gänzlich abgeschafft wäre. Der von Edward Morgan Forster stammende Satz "Wie kann ich wissen, was ich denke, ehe ich höre, was ich sage?", lässt in dieser Hinsicht keine Frage unbeantwortet. Wer nicht mehr sagen kann, was er denkt, kann auch nicht wissen, was er denkt, weil er eben einfach nicht hören kann, was er sagt. Nun wären wir alle besser dran, wenn nicht so viel gesagt würde, was alle sagen. Genau das wird aber andauernd gesagt, und zwar meistens mit dem Zusatz, das man das ja  - eigentlich - nicht sagen dürfe.

Das mit dem „Dürfen“ ist nun auch so eine Sache. Dass wir in einem Land leben, lässt sich ja schwerlich bestreiten. Und wenn schon etwas für dieses Land charakteristisch sein soll, dann ist es das mit dem „Dürfen“. In der Deutschen Demokratischen Republik gab es das sogenannte Erlaubniswesen. Das war eine Abteilung, ich glaube, bei der Volkspolizei angesiedelt, deren Aufgabe darin bestand, Erlaubnisse zu erteilen. Das war notwendig, weil alles, was nicht ausdrücklich erlaubt war, vor allem eines war: Nämlich verboten. Grundsätzlich war einfach alles verboten. Wenn man irgend etwas machen wollte, musste es erst erlaubt werden. Diese „Erlaubniskultur“ war zwar in der DDR sehr ausgeprägt, sie kann dort aber nicht erfunden worden sein. Unser schönes Wort „Urlaub“, das es ja auch im Westen gab und auch heute noch - und so nur im Deutschen - gibt, leitet sich zum Beispiel von der Erlaubnis ab. Es bedeutet, dass man mit Erlaubnis seines Dienstherrn dem Dienst fernbleibt, was man grundsätzlich nicht darf. Ich wage es, die These aufzustellen, dass wir ein Land sind, in dem das grundsätzliche Nicht-Dürfen historisch bedingt mit der Muttermilch verabreicht wird.

Diese offenkundige Unmündigkeit gerät nun mit dem Selbstverständnis der Aufgeklärtheit und mit jeglicher freiheitlich orientierten Grundordnung in einen gewissen Widerspruch. Ein freier, aufgeklärter Geist braucht für ihr Handeln keine Erlaubnis und fragt nicht danach. Sie tut einfach, was sie für richtig hält. Manchem Zeit- und Landesgenossen ist das aber nicht ganz geheuer. Er zieht den Kopf ein und ist sich dessen bewusst, dass er - eigentlich - nichts sagen dürfte, weil es ihm ja niemand erlaubt hat. Wenn er  es aber trotzdem tut und dann auch noch Widerspruch erntet, fühlt er unmissverständlich, dass er etwas falsch gemacht hat. Gleichzeitig fühlt er die Ungerechtigkeit, sich des eigenen Verstandes ohne Führung und Leitung eines anderen nicht bedienen zu können. Das macht ihn dann wütend. Zu Unrecht allerdings. Denn seine Unmündigkeit ist selbstverschuldet, solange sie ihre Ursache nicht im Mangel des Verstandes hat, sondern im fehlenden Mut.

Kommentare