Angst machen

Man darf wieder ohne triftigen Grund das Haus verlassen. Einfach so. Sozusagen mir nichts, dir nichts. Man braucht nicht mehr darüber nachzudenken, warum man ausgerechnet jetzt rausgehen wollte oder sollte. Man kann einfach losgehen. Zack, ist man draußen. Warum? Wozu? Wohin? Alles egal. Hauptsache raus. Wenn ich es mir genau überlege, bin ich auch früher keineswegs ohne triftigen Grund vor die Tür gegangen; wäre mir nicht eingefallen. Allerdings hätte ich ohne eine Erlaubnis gehen können. Jetzt habe ich sie, obwohl ich immer noch nicht grundlos rausgehe. Das erinnert mich ein bißchen an meine Bremsprobeberechtigung: eine Erlaubnis zu etwas, was man sowieso nicht macht. Dass so etwas überhaupt erlaubt werden kann, ist auch nicht ganz selbstverständlich. In der Deutschen Demokratischen Republik war es das schon, weil alles, was nicht ausdrücklich erlaubt wurde, eben verboten war. Das Verbotensein war sozusagen der Grundzustand allen Seins, aus dem ein Gegenstand durch das Erlaubtwerden hervortreten konnte. 

In der Bundesrepublik Deutschland ist das jedenfalls nicht so gedacht, wobei sich in den ostdeutschen Landratsämtern die Institution des „Erlaubniswesens“ offenbar bis heute gehalten hat. Nun neigte ich schon früh der These zu, dass das gesamte allgemeine Unglück in der Welt zu großen Teilen daher rührt, dass viel zu viele Menschen viel zu oft ohne triftigen Grund ihre Häuser verlassen. Sie streunen tagsüber und nächtens ruhelos umher und verursachen dabei Emissionen aller Art, die dem Planeten ganz und gar nicht förderlich sind. Dagegen sind Tröpfchen und Aeorosole fast schon wieder vernachlässigbar: Lärm, Licht, Müll, Strahlung, Feinstaub, Abgase. Was ist damit? 

Alles nicht so schlimm. Ich fände es allerdings gar nicht übertrieben, wenn man schon aus Gründen des Infektionsschutzes das grundlose Verlassen der Wohnung verbieten kann, aus Gründen des Imissionsschutzes die Benutzung eines Verbrennungsmotors ebenso nur noch mit triftigen Gründen zu erlauben.  Mir fallen zwar auf Anhieb gar keine Gründe ein, aber es gibt bestimmt den einen oder anderen (vielleicht für Eisenbahnen des ÖPNV auf nicht elektrifizierten Strecken). Aber leider scheint es so zu sein, dass der derzeitige Erfolg beim Infektionsschutz auf der Angst vor eigener Ansteckung und vor unmittelbarem eigenem, persönlichen Leid beruht. Diese Angst und damit die Akzeptanz von Einschränkungen sinkt überall dort, wo die Maßnahmen erfolgreich sind und keine Infektionen auftreten. Beim Immissionsschutz fehlen Leidendsdruck und Angst fast vollständig. Wer sich hier als Emittend einschränkt, handelt vollständig aus Vernunftgründen. Dafür ist der Mensch jedoch - möge er sich auch selbst sapiens sapiens nennen - von seinen biopsychosozialen Voraussetzungen her nicht annähernd ausreichend ausgestattet. Es hilft daher wirklich nur eins: Man muss ihm Angst machen. Aber richtig. 

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