In Deckung bleiben

Die Krise ist ein zur Zeit sehr bemühtes und gleichwohl missverstandenes Wort. Man schmiedet Pläne für die Zeit, wenn die Krise vorbei ist und denkt wehmütig an die Tage vor der Krise zurück. Damit tut man sowohl der gegenwärtigen Situation als auch der Krise Unrecht. Denn - man kann es leider nicht anders sagen: Die Krise ist noch gar nicht da. Als Krise bezeichnet man den Höhe- oder Wendepunkt einer Entwicklung; den Punkt, an dem sich das Geschehen zum Guten oder zum Schlechten wendet. Dieser Zeitpunkt ist nicht nur noch nicht da, wir tun auch alles, um ihn so weit wie möglich hinauszuzögern. Zurzeit leben wir einfach nur in einer unangenehmen weil ganz und gar unentschiedenen Situation. Und wer ist schuld daran? Schuld daran ist ES, dessen Name hier nicht genannt werden soll. ES ist ein unsichtbares Phantom und es wird immer schwieriger zu glauben, dass ES wirklich existiert. Natürlich will man nicht, dass irgendjemand, den man kennt IHM zum Opfer fiele, aber man kennt eben auch keinen, den ES erwischt hätte. Man kennt auch keinen, der einen kennt. Ja, man kennt nicht mal einen, der mal neben einem gesessen hat, der einen gekannt hat, der einen kannte. Gut - wir alle kennen natürlich Boris Johnson. Aber der hat 1.) überlebt und 2.) kennen wir ihn natürlich auch nicht wirklich.

Also geben wir uns kurz der wehmütigen Erinnerung hin: als die Welt noch in Ordnung war, als wir frei und unbeschwert reisten, wohin uns gerade der Sinn stand und als wir uns mit allerlei hausstandsfernen Freunden, Bekannten und Verwandten nach Lust und Laune begegneten, als wir Hände fassten und schüttelten und unsere Wangen aneinander rieben. Ach. Nun, ich gebe ja zu, dass mir das Abstand halten keine übermäßigen Schwierigkeiten bereitet. Bei vielen Gelegenheiten im Makrosozialen hätte ich mir das auch früher schon viel mehr gewünscht. Aber selbst mir sind doch auch außerhalb meiner Kleinfamilie mehr als eine Handvoll Menschen lieb und teuer, denen ich mich gerne auf unter ein Meter fünfzig näherte, wenn ich sie auch nicht gleich alle herzen und umarmen müsste.

Ich will nicht leichtsinnig oder übermütig erscheinen, aber ich wünsche nun doch ein bisschen die Krise herbei. Zur Krise käme es nämlich, wenn wir alle IHM, dessen Name hier nicht genannt werden soll, das nackte, ungeschützte Gesicht und damit die Stirne böten. Dann wären wir aber genauso dumm, wie die Marsleute in H.G. Wells „Krieg der Welten“, die den Bakterien zum Opfer fielen, die ihr Immunsystem nicht kannte. Wenn wir nur weiter in der Deckung bleiben, vielleicht auch noch für lange Zeit, bis wir uns IHM wirklich stellen können, könnte unsere Geschichte für uns anders ausgehen, als für die Marsleute. Und in dieser Zeit könnten wir ja lernen, diesem Planeten anders zu begegnen, anstatt als Invasoren oder Kolonialisten. Wir könnten versuchen, mit ihm etwas anderes anzufangen, als von ihm Besitz zu ergreifen, ihn zu annektieren, zu misshandeln und zu missbrauchen. Wir könnten versuchen, ihn zu lieben.

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