Nicht lange klagen

Der Paketdienstleister Hermes bietet dieser Tage eine schöne Choreografie für ein Zustellerballett an: Der Bote stellt das Paket auf dem Boden ab, klingelt und tritt dann 1-2 Schritte zurück. Der Kunde kommt zur Tür und unterschreibt mit eigenen Stift auf dem Paket und tritt dann seinerseits 1-2 Schritte zurück. Dann kommt der Bote wieder und fotografiert die Unterschrift auf dem Paket. Das war’s schon und jeder geht wieder seiner Wege. Mit der passenden Musik muss das ein schönes Schauspiel sein. Dazu passend waren der Tagespresse kürzlich Hinweise für die richtige Umarmung zu entnehmen. Umarmen ist wichtig - aber wenn schon, dann richtig. Auf jeden Fall sollten beide Umarmer den Mund-Nase-Schutz tragen. Dann muss man nur noch darauf achten, dass die Köpfe nicht etwa zusamenkrachen, sondern schön versetzt über die jeweilig andere Schulter schauen. Beide könnten ja vorher mit den Daumen die Richtung untereinander abstimmen. Aber vielleicht lässt man es auch doch besser bleiben und kneift stattdessen einmal kurz beide Augen zusammen, verbunden mit Grinsen und ruckartigem, einfachen Kopfnicken. 

Es kommt jetzt darauf an, kreativ zu sein und es darf keine Denkverbote geben! Wir stellen die Weichen für die sozialen Regeln einer Nachwelt, die heute so weit in unserer Zunkunft liegt, wie vielleicht die soziale Wirklichkeit der Erfinder des Händeschüttelns in unserer Vergangenheit. Kein Mensch kann mehr belegen, welcher konkrete Umstand dazu geführt hat, mit diesem Verhalten anzufangen. Manches Verhalten schleift sich schnell ein. Wenn dann der eigentliche Anlass weggefallen ist, schleift es sich vielleicht ab, bleibt aber trotzdem in Gebrauch und irgendwann weiß keiner mehr, was das Ganze eigentlich soll. Man macht es eben so. Ganz sicher bleibt zum Beispiel die Plexiglasscheibe. Aber auch die „Mund-Nase-Bedeckung“ wird heute schon gerne am Kinn oder - von ganz Kühnen - an einem Ohr hängend getragen. So wie man ja auch gerne mal den Beifahrer-Gurt in die Fahrer-Schnalle steckt, um das lästige Gepiepe loszuwerden, wenn man sich nicht anschnallen will. Es ist auch schön, dass in der Bahn niemand zu mir in die Vierergruppe kommt, aber dieses Bedürfnis nach Abstand wird wahrscheinlich schon sehr bald nachlassen. 

Um alle diese Dinge muss man sich keine Sorgen machen. Schlimm wäre nur eines: wenn nämlich das gemeinsame Singen wieder in Verruf gerät. In der alten Bundesrepuplik war es das durch Theodor W. Adorno, der fand, dass nirgends geschrieben stehe, „dass Singen not sei“. Das ist es aber sehr wohl, denn es kommt nun mal sehr selten Gescheites dabei heraus, wenn gemeinsam geredet wird. Und außerdem - man mag es glauben oder nicht - stärkt das Singen das Immunsystem.  Und jetzt: frisch gesungen! Und alles wird wieder gut. 

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