Es ist leider ein weit verbreiteter Irrtum, dass vom Schlafen die Müdigkeit weggeht. Es verhält sich damit eher so, wie mit dem Juckreiz: Gibt man ihm nach und kratzt sich, wird es immer schlimmer. So ist es auch mit der Müdigkeit. Nein, gegen sie ist nun mal kein Kraut gewachsen. Die einzige Möglichkeit eines gesunden Müdigkeitsmanagements besteht darin, sich mit ihr zu arrangieren und mit ihr zu leben. Darin bin ich inzwischen ganz gut, was nach so vielen Jahren auch sein möchte, denn die Müdigkeit begleitet mich schließlich so lange ich denken kann. Schon meine Mutter diagnostizierte chronischen Sauerstoffmangel als Ursache, weswegen ich Kindheit und Jugend quasi an der frischen Luft und in ständiger Bewegung absolvierte. Gegen die Müdigkeit hat das freilich nicht geholfen. Ich stelle mir einfach vor, meine Müdigkeit wäre eine gute alte Bekannte. Sie gehört sozusagen schon zur Familie und wir müssen uns gar nicht weiter um sie kümmern. Sie fällt tagsüber gar nicht weiter auf und uns nicht zur Last. Abends sitzt sie mit uns auf der Couch und ich trinke mit ihr ein oder zwei Hefeweizen. Dabei schlafe ich natürlich ein und wenn ich wieder wach werde, ist sie immer noch da und wir können zusammen mein Glas austrinken. Nur ins Bett kommt sie natürlich nicht mit. Da würde sie auch sehr stören, denn vor lauter Müdigkeit könnte ich dann wieder nicht einschlafen.
Die Müdigkeit nach einem langen Tag ist eine Sache, aber wie ist es damit nach einem langen Leben? Ein kleines Mädchen hatte eine fröhliche und glückliche Kindheit. Sie war die Älteste von vier Geschwistern, ging zur Schule, wurde konfirmiert und die Welt schien in Ordnung. Aber dann kam der Krieg und der Vater musste fort. Schließlich mussten sie fliehen und alles zurücklassen, was das Leben angenehm und erträglich machen konnte. Der Vater starb im Lazarett und seine Witwe versuchte mit den vier Kindern den Neubeginn. Das junge Mädchen half dabei, so gut es ging.
Dann verließ sie das Dorf, die Mutter und die Geschwister und kam zur Ausbildung als Krankenschwester ins geteilte Berlin. Dem Krankenhaus, das sie damals aufnahm, diente sie 42 Jahre lang und den Berlinern hielt sie insgesamt 50 Jahre lang die Treue. Danach kam sie zu uns nach Hennigsdorf, wo sie fast weitere 10 Jahre mithalf, meine Mutter zu pflegen. Seit dem Tod meiner Mutter sind nun wieder 10 Jahre vergangen, in denen sie sich im Seniorenkreis der Kirchengemeinde engagierte, eine Freundschaft mit einem kleinen Jungen einging und aus dem Nest gefallenen Schwalben das Fliegen beibrachte. Es war ein Leben für andere, sich selbst verschenkend - aber sich selbst nie verlierend. Nun ist unsere Tante Hannelore gestorben und das lange Leben ist zu Ende. Von Müdigkeit keine Spur. Es war Liebe.
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