Die Verordnung von Kontaktbeschränkungen durch eine Landesregierung beruht auf der Grundannahme, dass die Landeskinder gerne und oft dazu neigen, sich mit Artgenossen zu treffen und dabei nicht willens oder in der Lage sind, die Balance zwischen Nähe und Distanz zu wahren. Das ist sehr fein beobachtet. Dabei hängt von dieser Fähigkeit einiges, um nicht zu sagen alles ab, nicht nur der Schutz vor Ansteckung mit gefährlichen Krankheiten. Das wir in diesem Sinne nicht balancehalten können, sollte uns mehr zu denken geben, als die Aussicht auf abgesagte Weihnachtsmärkte oder bußgeldbewährte Feierverbote. Aber das tut es nicht und darum werden wir uns weiterhin nicht um das Notwendige kümmern, sondern mehr oder weniger laut auswerten, was die anderen alles falsch machen. Es ist ja auch politisch und juristisch interessant, wie das Land zur Zeit regiert wird. Es ist nur leider nicht das eigentliche Problem, sondern eine Folge davon. Das eigentliche Problem ist, dass wir zu schnell zu viele geworden und dass weder unsere biologische Ausstattung, noch unseren geistigen und sozialen Fähigkeiten auch nur annähernd mitgewachsen sind.
Diese Erkenntnis führt zu einer Stimmung, wie sie Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts geherrscht haben mag; das Bewusstsein der eigenen schuldhaften Verlorenheit und die Sehnsucht nach Erlösung: Mund-Nase-Bedeckungen, Abstinenz von allem, was Spaß macht, Kontaktbeschränkungen, ein Impfstoff. Auch dahinter steht der Gedanke, man könnte sich die Erlösung verdienen oder kaufen. Und sei es in Form von Klopapier oder Nudeln. Dass wir das nicht können, dass die Erlösung weder durch eine Impfung oder durch eigene wie auch immer geartete Anstrengung kommt, sondern wenn, dann einfach so, weil wir Glück haben, als Geschenk - das wäre geradezu ein reformatorischer Gedanke. Dass es diesmal nicht die Kirche ist, die das Monopol auf die Erlösung beansprucht, finde ich ermutigend.
Sich in diesem Sinne zu reformieren bedeutete eben nicht, alle gebotene Vorsicht und vor allem Rücksicht außer Acht zu lassen. Es bedeutete eben nicht, auf einer individuellen Freiheit zu bestehen, die keine Grenzen kennt. Es bedeutete, zu verstehen, welchen unschätzbaren Wert jedes einzelne Leben besitzt und welche Verantwortung daraus für jeden einzelnen erwächst. Es bedeutete, zu begreifen, dass es das Gegenwärtige ist, was unser Leben ausmacht, das sich nicht festhalten, nicht verordnen, aber auch nicht verbieten lässt. Es bedeutete, wieder handlungsfähig zu werden, statt ohnmächtig in den Abgrund zu starren oder einfach nur wütend zu sein. Ob die Kirchen dabei noch einmal eine Rolle spielen, ist noch nicht abzusehen. Möglich wär‘s.
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