Die Sonntagspredigt

„Du brauchst nur noch runterdrücken“ sagte die anmutige Mutter meines Kindes, als ich mich gerade fragte, ob es möglicherweise in der frühkindlichen Hirnentwicklung eine Phase gibt, in der die Wahrnehmung nur in zwei Dimensionen möglich ist. Dann könnte man erklären, warum das Kind jegliches dargereichtes Essen auf den Fußboden wirft und müsste deswegen keinen Groll gegen es hegen. Das Kind legt die Nahrung einfach nur neben sich ab, wie es das mit anderen Gegenständen auf dem Boden sitzend oder liegend auch gewohnt ist. Dass diese dann in der Tiefe verschwinden, kann es keinesfalls vorhersehen, denn das Vorhandensein einer dritten Dimension ist ihm eben noch nicht bewußt. Es hülfe auch nicht viel, das Kind wortreich darüber zu belehren. Seine Welt bliebe, wenn die These zuträfe, bis zum nächsten Entwicklungsschritt zweidimensional. Ob das schon meine Sonntagspredigt gewesen sei, wollte meine schöne Frau wissen, als sie vom Fußboden zurück wieder am Tisch Platz nahm. 

Ich verneinte. Dies tat ich jedoch nicht ohne ein weitverbreitetes und höchst bedauerliches Mißverständnis anzusprechen. Unter einer guten Predigt wird ja heute meistens eine rhetorisch schöne Ansprache mit hohem Informations- und Unterhaltungswert verstanden. Dieses Kriterium hatte ich zweifellos erfüllt. An eine wirkliche Predigt (von lat. praedicare: öffentlich ausrufen, verkündigen) wären aber andere Ansprüche zu stellen. Zunächst wäre das das Vorhandensein einer Botschaft, die es wert ist öffentlich ausgerufen zu werden. Desweiteren bedarf es einer Vollmacht des Verfassers dieser Botschaft, die meistens qua Amt erteilt wird. Bei heutigen Predigten fehlt die Botschaft leider oft vollständig, dafür kann man viel Interessantes und Wissenswertes erfahren, was einer Predigt aber keinesfalls nottut. Mir fehlen zum Predigen im Moment noch Vollmacht und Öffentlichkeit. Innerhalb unserer noch kleinen Familie könnte ich mich aber schon verkündigend betätigen. Genaugenommen muss ich es natürlich, wenn mir die Botschaft etwas bedeutet und kein Berufener in Sicht ist, der mein unmündiges Kind auf seinem Wege führen und leiten könnte. 

Dann drückte ich runter, nämlich den Drücker der Drückerkaffeekanne. Gleich anschließend fragte ich mich, ob es eine Entwicklungsphase bei älter werdenden Menschen gibt, mit Hilfe derer man erklären könnte, warum Käse, Butter und der halbe Frühstückstisch mit Kaffeesatz besudelt sind, noch bevor das Frühstück angefangen hat. Aber meine Frau wollte keine Erklärung. Dafür hatte sie eine Botschaft: „Es ist doch nicht schlimm!“ Und das war die Sonntagspredigt. 

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