Zeugnisse

Es ist nicht immer von Vorteil, wenn Verlorenes wiedergefunden wird und manches Verschwundene bleibt vielleicht besser verschwunden.



Mein altes Zeugnisheft war verschwunden. Dort, wo es über Jahrzehnte sicher und warm gelegen hatte, lag es plötzlich nicht mehr. Das war traurig, denn das alte Zeugnisheft war immerhin der einzige mir verbliebene Zeuge meiner viel zu früh verflossenen Kindheit und Jugend. Was für ein feiner Mensch ich schon während meiner Schulzeit war, das weiß nur das alte Zeugnisheft. Sicherlich könnte ich immer noch Bruder und Vater dazu befragen. Aber gerade diese beiden letzten Zeitzeugen haben manchmal sehr eigenwillige Erinnerungen an dieses heroische Zeitalter, die ich nicht unbedingt objektiv nennen möchte. Ich rechne auch nicht damit, meine damaligen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden wiederzusehen, denn ich glaube, nahezu als einziger dieses biblische Alter erreicht zu haben, von wo aus ich nun gleich Moses sowohl auf mein bisheriges Leben als auch in das verheißene gelobte Land zu blicken vermag.

Aber was soll’s? Das gute Stück ist weg, den Weg alles Irdischen gegangen, übern Jordan, hat den Abgang gemacht. Verloren gegangenen Sachen hinterher zu trauern bringt nichts, außer schlechter Laune. Schauen wir also nach vorn und blicken zurück, in die eigene Erinnerung gewissermaßen, der man ja wohl noch trauen dürfen wird. Wie war ich so, als Schulkind? Natürlich über alle Maßen liebenswert, freundlich, zurückhaltend und zärtlich. Ich war wohl ein leises Kind, das immer auf das Wohl der anderen und besonders das der Schwächsten bedacht war.

Mein eigenes, (zu früh) aufgewecktes Kind klettert gerade in einer entlegenen Ecke unseres Bücherregals herum und hält auf einmal das wohlbekannte Heftchen in seinem rosa Umschlag in der Hand. Das alte Zeugnisheft ist wieder aufgetaucht. Jetzt werden meine Erinnerungen ihre wohltuende Bestätigung finden und es wird sich zeigen, dass ich in meiner mir eigenen Bescheidenheit wieder gewaltig untertrieben habe. Ich schlage das Heftchen auf und lese unter Klasse 1b: „Es fällt ihm aber noch sehr schwer, sich mit seinem Wissen zurückzuhalten. Große Lücken zeigen sich in seinem Ordnungssinn.“ 2b: „Er arbeitet zu sporadisch manchmal ohne jedes Ziel. Es fällt ihm sehr schwer, seine Interessen denen des Kollektivs unterzuordnen.“ 3b: „…muss er sich auch bemühen, sein Verhalten unter Kontrolle zu bringen, um seine Späße im passenden Moment wirken zu lassen… muss unbedingt mehr auf Ordnung und Sauberkeit achten.“ 6b: „…seine Zunge mehr im Zaum zu halten…“ 7b: „…unaufgeforderten Zwischenbemerkungen im Unterricht einzustellen…“ 8b: „…muss durch mehr Selbstkontrolle verbessert werden…“

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