Ich lebe mit meiner schönen Frau und zwei kleinen Kindern in einer Stadt im Erzgebirge, die sich als Perle desselben ausgibt und seit ein paar Wochen wohnt nun auch mein Vater hier, der bis dato allein in jener Stadt vor den Toren Berlins lebte, in der ich geboren wurde. Er hat gern dort gelebt und doch wurde es ihm im Alter jetzt immer schwerer, allein mit all den Tücken des Alltags fertig zu werden und seine kleineren Enkelkinder nur ein- bis zweimal im Jahr zu Gesicht zu bekommen. So fasste er von uns ermutigt den Entschluss, sich hier eine kleine Wohnung zu mieten und trotz seines hohen Alters noch einmal umzuziehen. Wir fanden eine Wohnung, der neue Mietvertrag wurde unterschrieben und der alte gekündigt. Er wollte gerade damit beginnen, seine Habseligkeiten einzupacken, da traf ihn der Schlag. Er erlitt einen Hirninfarkt, die Sprache war weg, die Nachbarin rief die Feuerwehr und er kam ins Krankenhaus. Noch am selben Tag konnte er wieder sprechen und nach fünf Tagen wurde er wieder nach Hause entlassen. Noch mal Glück gehabt.
Gut sechs Wochen später kam dann der Reinfarkt, von dem er sich bis heute noch nicht erholt hat. Die Fähigkeit zu sprechen ist nachhaltig gestört, was für meinen Vater wahrscheinlich das Schlimmste ist. Nach einer zweimonatigen Odyssee durch drei Krankenhäuser hat er außerdem seine Selbständigkeit weitgehend verloren und ist in seiner neuen Wohnung und in der neuen Umgebung nun auf fremde Hilfe angewiesen. Wenn er allein die Wohnung verlässt, verläuft er sich und kann nicht nach dem Weg fragen. Wenn er Glück hat, landet er dann wieder im Krankenhaus.
Mein großer Bruder ist fünf Jahre älter als ich und an die Zeit, in der er vielleicht mit mir gespielt hat, kann ich mich nicht erinnern. Aber wenn ich ihn brauchte und nach ihm rief, kam er und haute mich raus. Auch diesmal kam er trotz sechs Stunden Autofahrt, brachte Sachen ins Krankenhaus, packte mit die Habseligkeiten unseres Vaters zusammen und übergab die alte Wohnung. Ich selbst versuche, die Pflege und die weitere Therapie zu organisieren und meine Balance wiederzufinden, die Balance zwischen der Sorge für meinen alten Vater und der für meine kleinen Kinder. Ihre Mutter, meine Geliebte, meine Freundin und Frau trägt zurzeit die ganze Last und hält mir den Rücken frei. Sie schafft das auch, keine Frage und sie schafft noch mehr. Die Kinder aber spielen die Hauptrolle in dem ganzen Theater. Nur Kinder können noch so unbekümmert und selbstverständlich mit Altwerden, Verfall und Tod umgehen und wenn ich wieder bei ihnen bin, fällt für ein paar Stunden alle Last von mir ab und ich kann wieder frei atmen, bis mich die Drei-Uhr-Dämonen wieder zu quälen beginnen. Und auch mein Vater hat in diesem Jahr trotz allem Unglück schon öfter Besuch von seinen beiden kleinen Enkelkindern bekommen, als in den vergangenen Jahren und ich glaube, er erlebt beim Zusammensein mit den Kindern wenigstens im Ansatz dasselbe. Das Leben ist nicht gerecht und es ist auch nicht leicht. Aber manchmal kommt eben doch die Sonne durch. Dann ist es nicht nur ganz erträglich, sondern sogar schön.
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